Audio

Bazillus-Infection (Excerpt)
(Wiebelfetzer – Wiebelfetzer live, 1971)

The Ole Bump n’ Flow
(Jean-Paul Bourelly — Live At Bazillus 1, 2006)

Round Midnight
(Grauband – Trio & Quartett, 2006)

Radio-Interview
(Jazz Collection : Don Cherry, 2005)

Knurrli’s Dance
(Michel-Grau - Demo 2000, 2000)
 

Jürg Grau, * Zürich, 22.06.1943, † Zürich, 20.03.2007 

Schauspieler, Stadtplaner und Jazzmusiker (Trompete, Gitarre)

Archivdaten von Jürg Grau >>>

Grenzen sprengender Jazz aus Zürich

Der Stadtzürcher Jürg Grau (1943–2007) legte in seinem illustren, freilich nur kurz ins Pensionsalter reichenden Leben drei bemerkenswerte Spuren.

Schauspieler, dann Architekt

Der Deizehnjährige spielte in Kurt Frühs Milieufilm «Oberstadtgass» auf einnehmende Art den Knaben Mäni Brändli an der Seite der damaligen helvetischen Volksschauspieler-Prominenz. Als Architekt und Gestalter setzte Grau sodann während 34 Dienstjahren im städtischen Tiefbauamt starke Akzente im «Steinhaufen» (Originalton Jürg) von Zürich.

Als Trompeter und Gitarrist sprengte sein «Groove» stilistische Grenzen: In seiner musikalischen Welt hatte Louis Armstrong ebenso Platz wie Freddie Hubbard oder Don Cherry, Frank Zappa und James Brown begeisterten ihn ebenso wie Ellington, Bruckner oder Bartok, helvetische Folklore und World Music konnten ihn gleichermassen berühren wie der Neutöner Charles Ives.

Vaterfigur der Zürcher Jazzszene

Die Tatsache, dass Jürg Grau nicht von einer bestimmten musiktheoretischen Richtung vereinnahmt wurde, sondern sich den Jazz und Anverwandtes als Autodidakt erschloss, mag zu einem guten Teil die Wertschätzung erklären, die ihm in- und ausländische Mitmusiker aller Bekanntheitsgrade – Professionals so gut wie Amateure, Newcomer ebenso wie alte Hasen – entgegenbrachten. Noch wichtiger aber war wohl, dass Jürg eine scheinbar unerschöpfliche musikalische Energie ausstrahlte. An der Spitze seiner Grau Band und in zahllosen anderen Vehikeln auf und neben der Bühne kommunizierte einer, den man die «Vaterfigur der Zürcher Jazzszene» nannte, mit Herzlichkeit, Daseinslust, Begeisterungsfähigkeit, Frohsinn und Temperament.

«Schattierungen von Grau»

Die Institution Jürg Grau – er war auch Mitinitiant und Präsident des Zürcher «Moods» – zeichnet postum ein berührendes Buch nach, das Jürgs Gattin Charlotte Heer Grau sechs Jahre nach dem Tod des Musikers realisierte und mit Texten aus Jürgs immensem Freundeskreis ausstattete. «Schattierungen von Grau», so der Titel des Bandes, ist kein Denkmal. Es ist ein mit Herzblut geschriebenes Porträt, dessen unterschiedlich gestaltete Beiträge Jürg Graus auffälligste Eigenschaft paraphrasieren: Vielfalt. Das Schweizer Jazzarchiv partizipiert an diesem Reichtum: Jürg Graus Nachlass in Form von unzähligen Tonträgern aus den verschiedensten Stilbereichen befindet sich im swissjazzorama.

(René Bondt, Jazzletter Nr. 31, August 2014)

Dj mit Pocket Trumpet: Jürg Grau

Der Zürcher Free Jazzer Jürg Grau hat sich Experimenten nie verschlossen. Zurzeit legt er Platten auf und begleitet sich dabei selber mit der Trompete.

In seinem Werdegang widerspiegeln sich wichtige Kapitel der Zürcher Jazzgeschichte: Ende der 50er-Jahre begeisterte sich Jürg Grau für Dixieland, wenig später kamen im legendären Africana beim Zähringerplatz die Interessen für Hardbop und die immer freier werdenden Improvisationen des Free Jazz hinzu.

Mit jungen Weggefährten wie der Pianistin Irène Schweizer und Pierre Favre am Schlagzeug machte sich der damals knapp 18-jährige Trompeter schnell einen Namen. In der Vaterfigur der Zürcher Jazzszene, dem Vibrafonisten Remo Rau, hatte er einen hilfreichen Mentor. Groovemässig so richtig gepackt mit der Musik hat es Jürg Grau aber erst, als er die „scharfen“ Sachen aus der Black Music hörte: den Rhythmus eines James Brown, den Funk der Isley Brothers, die pluckernden Akkorde und den bissigen Gesang der Ghetto-Stimme Curtis Mayfield. „Sie wurden für mich, neben der Begegnung mit Miles Davis Jahre zuvor, zu einem Schlüsselerlebnis.“ Seither gibts für Grau nur eine Devise: „Alle Musik muss grooven, selbst klassische Musik.“

Sets mit Leckerbissen

Dieses Prinzip hat Grau auf seine jüngste Leidenschaft, Das DJ-ing, übertragen. So fremd, wie es angesichts seines Alters erscheinen mag – Grau wird in diesem Sommer 62-jährig -, ist ihm die Welt der Klubsounds nicht. „Sie schöpft aus dem Fundus der Black Music.“ Weil er selber eine Sammlung von rund 1500 raren LPs aus dieser Stilrichtung besitzt, lag es nahe, sie aus seinem genau geordneten Archiv herauszuholen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Mit den heutigen DJs möchte sich Grau dennoch nicht messen. Vor ihren Turntable-Techniken empfindet er Hochachtung. Er sieht in ihnen eine Erweiterung des instrumentalen Spektrums, der ersten seit der Entwicklung der Synthesizerkunst.

Sobald sich in einem Stück Räume für ihn öffnen, stösst er mit seiner Pocket Trumpet hinein. Fetzend, funky, groovend eben. Seine markanten “fill ins“ bringt er auch gerne in die Jams mit anderen DJs und elektronischen Klangtüftlern ein.

Zum Dixie seiner Jugend zurückkehren will Grau nicht mehr. „Das ist old style“, sagt er. Und Teil seines Werdegangs.

(Peter Figlestahler, Züritipp, 03. März 2005)

Eine Zürcher Vaterfigur

Mit dem Jazztrompeter und Architekten Jürg Grau ist eine vielseitige Gestalt des Zürcher Kulturlebens gestorben.

Vergangenen Sommer, mit dreiundsechzig Jahren, liess sich Jürg Grau frühzeitig pensionieren. Er, der mehr als dreissig Jahre beim Tiefbauamt der Stadt Zürich gearbeitet hatte, wolle noch einmal „Gas geben“, sagte er damals – er meinte damit seine Leidenschaft, das Musizieren mit der Trompete: den Jazz.

Wie Grau aber, am 6. Februar dieses Jahres, im Zürcher Moods spielte und dafür Krethi und Plethi aus der hiesigen Jazzszene auf die Bühne lud, wurde der Abend zu einer letzten Würdigung des Trompeters. Grau war bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnet, die kurz nach seiner Pensionierung diagnostiziert worden war. Beim Moodskonzert wechselten sich vielleicht zwanzig Musiker ab auf der Bühne, von Irène Schweizer über Pierre Favre bis hin zu Jojo Mayer oder Herbie Kopf; ein eindrücklicher Elmar Ledergerber war zugegen – die Hommage zeigte, wie sehr Grau mit dem Zürcher Kulturleben verbunden war.

Als eine „Vaterfigur der Jazzszene“ beschreiben ihn musikalische Mitstreiter. In seiner Funk-Jazzformation Grau Band, die der Trompeter-Autodidakt seit den frühen Achtzigerjahren betrieb, spielten unzählige, die heutige Szene prägenden Instrumentalisten: eine Art „Durchlauf-Erhitzer“ war sie für junge Spieler – fast ein wenig nach dem Muster des amerikanischen Drummers Art Blakey.

Grau tauchte in der Stadt Zürich an vielen Orten auf, bei der Gründung des alten Moods im Bahnhof Selnau, 1992, war er massgeblich beteiligt und acht Jahre lang Präsident des Vereins.

Bereits 13-jährig war der 1943 in Zürich geborene Grau zu einem kleinen, nationalen Star geworden – allerdings nicht als Trompeter, sondern als Jungfilmstar in Bubenrollen. 1956 spielte er in der „Oberstadtgass“ unter der Regie von Kurt Früh den Mäni, arbeitete Seite an Seite mit Schauspielern wie Schaggi Streuli oder Margrit Rainer. Auch in der „Bäckerei Zürrer“ war er mit dabei.

Zum Brotberuf wurde Grau aber dann die Architektur. Nach dem ETH-Studium und einer Periode selbstständiger Tätigkeit arbeitete er beim Tiefbauamt. Zuständig für „Gestaltung öffentlicher Räume“ wurde er auch hier zur öffentlichen Figur.

In all den Jahren blieb Grau der Jazzmusik enthusiastisch verbunden. Er verkehrte im Africana-Jazzclub, spielte mit dem heute in jeder Jazzgeschichte beschriebenen Globe Unity Orchestra des deutschen Free-Pioniers Alexander von Schlippenbach. Nachdem ihn die Black Music zu faszinieren begann, erlernte er auch die E-Gitarre.

Manchmal fanden bei ihm Architektur und Musik glücklich zusammen. So entdeckte Grau in den 90ern am Zürichberg einen seit Jahrzehnten leerstehenden Wasserspeicher, lud Jazzmusikerfreunde zum Musizieren ein, liess die Töne in der Raumakustik und im unendlich langen Hall baden (nachzuhören auf der CD „Vollmond“ / Creative Works Records).

(Christoph Merki, Nachruf im Tages-Anzeiger, 22.03.2007)

Töne wie auf Ringe auf dem Wasser

Evan Parker, Peter A. Schmid, Jürg Grau und andere improvisierende Musiker schufen Musik für einen leeren Wasserspeicher.

Vor einigen Jahren entdeckte der Trompeter Jürg Grau am Zürichberg einen Wasserspeicher von 1922, der seit Jahrzehnten leerstand. Fast 2000 Kubikmeter Wasser hatte er einst gefasst, und jetzt breiteten sich darin Töne aus wie Ringe auf der Oberfläche eines Teichs, überlagerten und durchdrangen einander.

Grau und seine Kollegen Peter A. Schmid (Saxofone, Klarinetten, Flöten) und der Perkussionist Philipp A. Zehnder begannen Konzerte zu veranstalten in diesem einmaligen Raum, der mit seinen Betonstützen an eine Kathedrale in einem expressionistischen Stummfilm erinnerte. Als gewiefte Improvisatoren wussten sie die spezifische Akustik zu nutzen., erzielten mit sparsamen Mitteln verblüffende Effekte, z. B. indem sie in einer bestimmten Ecke nur einen Ton anspielten, der dann sekundenlang sich verwandelnd durch diesen Hallraum geisterte.

Die Feuerpolizei machte den Konzerten ein Ende, doch Aufnahmen konnten die Musiker zum Glück weiterhin machen. So liegt nun eine eigentliche Wasserspeicher-Trilogie vor: die Live-CD „Vollmond“ mit Schmid, Grau, Zehnder und Gästen. Und die Aufnahmen mit dem grossartigen englischen Saxofonisten Evan Parker: Auf „September Duos“ ist er im Zwiegespräch mit Peter A. Schmid zu hören, der hier nur Klarinette spielt; auf der Doppel-CD „September Winds“ sind ausserdem der subtile Posaunist Hans Anliker, der Klarinettist Reto Senn und der Saxofonist Jürg Solothurnmann mit von der Partie.

(Thomas Bodmer, Tages-Anzeiger, 19.09.2001)

Erinnerungen von Irène Schweizer

Ich habe gern mit Jürg gespielt. Remo Rau, der Pianist und Vibrafonist, war unser Jazzvater. Er wusste immer alles und hat mir vieles beigebracht. Wir waren Autodidakten, Jürg und ich, wir hatten keine Ahnung von Musiktheorie und spielten nach Gehör.

Jürg und ich hatten dann aber vor allem in den letzten Jahren ein sehr lockeres musikalisches Verhältnis. Von 1991 bis 1996 hatten wir noch unser Quartett. Unexpected Congeniality, Co Streiff am Sax, Jürg Wildberger am Bass und Jürg mit seiner Trompete. Etwa fünf Jahre haben wir das durchgezogen. Er hatte auch seine Grau Band und er war im Vorstand des Jazzclubs Moods, beziehungsweise sein erster Präsident. Ich weiss nicht, wie er das alles unter einen Hut gebracht hat.

Jedes Jahr, an meinem Geburtstag, egal, wo ich war auf der Welt, hatte ich eine Message auf dem Telefon, er gratuliere mir zum Geburtstag. Jedes Jahr, seit Jahrzehnten. Ich glaube, ich war nicht die Einzige. Aber mich hat das immer sehr berührt und gefreut.

(Irène Schweizer in „Schattierungen von Grau“, herausgegeben von Charlotte Heer Grau, 2013)

Danke, Mr. Groove

Fast jeden Tag durchquere ich zu Fuss die Langstrassenunterführung entlang der farbigen Dreiecke, welche die Fussgängertunnel zieren. Die Dreiecke springen rhythmisch vor und zurück, ihre Farbe changiert – sie gestalten eine Melodie fürs Auge. So etwas kann nur ein Mensch entworfen haben, der im Grunde seines Herzens Musiker war: Jürg Grau. Ich habe die Plakette zwar noch nicht entdeckt, welche ihn als Entwerfer verewigt. Vielleicht kommt sie noch, jetzt, wo er nicht mehr unter uns weilt?

Der Gedanke an Jürg schiebt sich jedes Mal in meinen Kopf, wenn ich an der ‚Melodie‘ entlangspaziere oder radle. Andere Urheber anderer Kunst am Bau vergesse ich rasch. Es muss mit der einfachen Kraft der Farbdreiecke zu tun haben, welche den Raum und die Zeit des Fussgängers gliedern, dass es mir in der Langstrassenunterführung anders geht. Dass sich für einen Augenblick der Groove ins Rauschen der Stadt einfügt.

Groove heisst eigentlich Kerbe, die Amerikaner übersetzen es mit Lebensfreude. Musikalisch übersetze ich es mit Schwingung. Ganz generell hat Jürg unsere Stadt in die richtige Stimmung versetzt, im Grossen als Mitarbeiter der Stadtplanung, im Kleinen als Freund, am stärksten sicher – in der Musik. Das Moods und die Moods-Bühne waren über Jahre sein zweites Zuhause. Nicht nur begeisterte sich Jürg immer für die Ideen und Auftritte der Kollegen und Kolleginnen der Musikerzunft – er war auch ein ausgezeichneter Präsident des Jazzvereins Moods über ich weiss nicht wie viele Jahre (ich vermute meine ganze Amtsdauer als Direktor von 1992 bis 1997). Er hat wenig gefordert, aber wunderbar unterstützt, er war grosszügig und risikobereit. Und er war ein Konfliktschlichter. „Grooven muss es“, war sein Motto, auch wo es um Beziehungen ging, und das Moods war eine gewaltige Beziehungskiste, wo es öfter krachte oder die Fetzen flogen.

„Grooven muss es.“ Das sagte Jürg jedes Mal, bevor er auf die Bühne stieg, „Männer, grooven soll‘s.“ Und so war seine Musik, so war sein Leben, so seine Arbeit – ein ständiges Grooven, eine ständige Suche nach der richtigen Schwingung. Denn Groove, das wissen die Musiker besser als ich, ist nichts Einfaches. Er setzt Rhythmus voraus, aber ist mehr, viel mehr: Er ist das Feeling, die emotionale Gravitation, welche die Dinge ins Lot bringt. Oder in Fahrt, um bei der Musik zu bleiben.

Moods, 1992 eröffnet, wäre nie geworden, was es heute ist: führender Jazzclub Europas, ohne den Optimismus und die beharrliche Vorarbeit von Jürg. Dafür möchte ich ihm – viel zu spät natürlich – aus tiefstem Herzen danken. Denn nicht nur Moods war für mich eine prägende Erfahrung, Auch Jürg war es – er trat ein. Und alles war anders. Er sprach. Und alle hörten zu. Er setzte das Horn an die Lippen – und die Welt schwang.

(Pius Knüsel in „Schattierungen von Grau“, herausgegeben von Charlotte Heer Grau, 2013)

Lange, lange ist es her

Präzise sind es vierundvierzig Jahre. Im Frühsommer 1964 waren Renate, Ernst und ich, Tilla Theus, im zweiten Semester wegen der darstellenden Geometrie beinahe am Verzweifeln. Renate und ich kamen aus dem literarischen Lateingymnasium und hatten von darstellender Geometrie früher nie etwas gehört. Die ersten und zweiten Semesterausgaben konnten wir anfangs noch mit viel Willens- und Durchhaltekraft lösen, aber mit der Zeit wurde die Problematik komplexer und unsere Möglichkeiten wohl auch reduzierter.

Du wars so liebenswert und verständnisvoll und hast mit unglaublich viel Geduld uns beiden versucht, die komplexen Situationen von sich durchdringenden Körpern verständlich zu machen. Wir sassen in eurem Wohnzimmer, der guten Stube, und deine Mutter hat uns mit wunderbaren Nussgipfeln verwöhnt. Für uns Studentinnen, bei denen alle Mittel etwas knapp waren und die wir die obligaten Hörnli mit Apfelmus des Studentenheims bald nicht mehr sehen konnten, war das ein riesiger Luxus. Das Vordiplom haben wir dann nicht gerade mit Bravour, aber doch zur Zufriedenheit der Professoren bestanden. Eigentlich war das nicht nur Renates und mein kleiner Erfolg, sondern vor allem deiner.

Renate und ich erinnern uns aber auch gerne an die Studentenanlässe, vor allem nachts, wenn du zu deiner Trompete gegriffen hast und mit Begeisterung und viel Musikgefühl die langen Nächte musikalisch umrahmtest. Sogar der Abwart unseres Polygebäudes wurde über unseren überzogenen nächtlichen Arbeitsstunden milde gestimmt und hatte seine heimliche Freude, wenn aus dem Keller deine Klänge die Nacht verzauberten.

(Tilla Theus in „Schattierungen von Grau“, herausgegeben von Charlotte Heer Grau, 2013)

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Das Buch „Schattierungen von Grau“ ist bei uns im Shop erhältlich.

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Zusammengestellt von Thomas Schärer